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Laufend mehr Assistenzsysteme für das Motorrad

Von anderen Verkehrsteilnehmern erkannt zu werden, ist entscheidend für die Unfallverhütung von Motorrädern. Das Standard-ABS, das seit 2017 Pflicht für Motorräder über 125 ccm ist, verhindert vor allem bei Geradeausfahrt einen Sturz durch blockierte Räder. Mit der Weiterentwicklung des ABS zum Kurven-ABS und einer professionellen Fahrausbildung sind bereits die wichtigsten Stützen bei der Unfallprävention genannt.

Sicherheitstechnik Stand 2023 Analog zum Auto werden auch die Zweiräder in Sachen Sicherheit ständig weiterentwickelt. Immer mehr elektronische Sicherheitssysteme sorgen dafür, dass es weniger zu kritischen Situationen kommt. Grundsätzlich ist zwischen aktiver und passiver Sicherheit zu unterscheiden. Aktive Sicherheitssysteme helfen, einen Unfall zu vermeiden. Ein Beispiel ist das ABS, das ein Blockieren der Räder verhindert. Passive Sicherheitselemente hingegen mildern die Folgen eines Unfalls. Beispiele sind der Motorrad-Airbag und gute Motorradkleider, die das Risiko schwerer Verletzungen bei einer Kollision verringern.

Ein aktiver Eingriff in Bremse oder Lenkung (wie beim Auto z. B. beim Notbrems- oder Spurhalteassistent) ist beim Motorrad nur bedingt möglich. Ist die Reaktion des Assistenzsystems für den Motorradfahrer unerwartet, kann sich die kritische Situation verschärfen. Viele Assistenzsysteme in Motorrädern haben deshalb nur einen warnenden Charakter oder sie beeinflussen und optimieren Fahrmanöver am Rand der physikalischen Grenzen. Trotzdem bieten einige Hersteller aktuell eine radargestützte adaptive Geschwindigkeitskontrolle an, die sogar Bremsungen mit Verzögerungen von bis zu 0,5 g einleitet. Das ist eine neue Qualität der Assistenzsysteme für Motorradfahrende.

Neue Systeme sind vorausschauend
Die neuesten Assistenzsysteme verfügen über zusätzliche Beschleunigungs- und Gierratensensoren, die mit sehr hoher Taktfrequenz arbeiten und stets den fahrdynamischen Zustand des Bikes analysieren. Dadurch können kritische Fahrzustände blitzschnell fast vorausschauend erfasst und selbsttätig über Bremseingriffe oder Warnungen entschärft werden.

Traktionskontrolle
Ebenfalls seit Jahrzehnten vom Auto bekannt ist die Traktionskontrolle, auch Antriebsschlupfregelung genannt. Sie ist nicht nur bei leistungsstarken Motorrädern sinnvoll, sondern insbesondere bei Nässe. Wer zu früh und zu viel Gas auf rutschigem Asphalt gibt, rutscht mangels Grip am Hinterreifen weg, was zu einem Sturz führen kann.

Wheelie-Control
Die Wheelie-Control (Fahren auf dem Hinterrad) nutzt die Sensorik des ABS und der Traktionskontrolle, zusätzliche Sensoren messen die Bewegung des Bikes um die Querachse. Steigt bei starkem Beschleunigen das Vorderrad, drosselt die Elektronik die Motorleistung, bis das Vorderrad wieder Fahrbahnkontakt hat. Bei manchen Motorrädern verhindert die Wheelie-Control ein Abheben des Vorderrads komplett, bei sportlicheren Maschinen lässt sie sich dies oft einstellen, so dass man das Vorderrad in mehreren Stufen bis zu einer gewissen Höhe kontrolliert aufsteigen lassen kann. Denn ein leichtes Wheelie bedeutet bestmögliche Traktion und Beschleunigung.

Stoppie-Control
Das Gegenstück zur Wheelie-Control ist die Stoppie-Control. Sie verhindert bei starkem Bremsen, dass das Hinterrad abhebt, und verhindert ein Überschlag des Motorrades. Die Stoppie-Control reduziert bei einer Vollbremsung den Bremsdruck, sobald sich das Heck des Motorrades anhebt. So bleibt das Motorrad auch bei maximaler Verzögerung stabiler.

Berganfahrhilfe
Mit der Berganfahrhilfe müssen die Motorradfahrenden beim Anfahren am Berg nicht mehr gleichzeitig mit Bremse, Kupplung und Gas ein Zurückrollen des Bikes verhindern, sondern können sich ganz auf das richtige Zusammenspiel von Gas und Kupplung konzentrieren.

Elektronische Schleppmomentregelung
Ein weiteres sinnvolles Assistenzsystem ist die elektronische Schleppmomentregelung. Bei sportlicher Fahrweise wird beim Anbremsen und hochtourigen Herunterschalten die Motorbremse stark genutzt. Grossvolumige Motoren haben ein starkes Schleppmoment, so dass es beim Herunterschalten zu einem kurzen Blockieren des Hinterrads kommen kann, was die Fahrstabilität beeinträchtigt. Die elektronische Motorbremse hebt in diesen Fällen die Motordrehzahl leicht an, um die Haftung am Hinterreifen zu gewährleisten.

Programmierbare elektronische Dämpferregelung
Elektronisch geregelte Stossdämpfer verfügen über eine variable Dämpferkennung. Sie können also der Beladung, dem Fahrstil des Fahrers, der Witterung und dem Untergrund entsprechend eingestellt werden. Hierbei wird die Dämpfung anhand sensorisch ermittelter Parameter über elektrisch angesteuerte Regelventile im Millisekundenbereich dem augenblicklichen Fahrmanöver sowie der vorherrschenden Fahrbahnbeschaffenheit angepasst.

Adaptive Abstands- und Geschwindigkeitsregelung (ACC)
Das Fahren bei dichtem Strassenverkehr und das Halten des richtigen Abstands zum vorausfahrenden Fahrzeug erfordern hohe Konzentration und sind auf Dauer anstrengend. ACC passt die Geschwindigkeit des Fahrzeugs dem Verkehrsfluss an und hält den nötigen Sicherheitsabstand zum Vordermann ein. Die Vorteile: ACC kann Auffahrunfälle vermeiden, die aufgrund zu geringen Abstands entstehen. ACC bietet dem Fahrer nicht nur mehr Komfort, er kann sich auch besser auf das aktuelle Verkehrsgeschehen konzentrieren. Die ACC darf dabei, im Gegensatz zum Auto, nicht zu aggressiv regulieren.

Totwinkelwarner
Er hilft den Motorradfahrern beim sicheren Wechseln der Spur. Ein Radarsensor dient dem Totwinkelwarner als elektronisches Auge. Er erfasst Objekte im schlecht einsehbaren Raum. Die Technik warnt den Fahrer mit einem optischen Signal, zum Beispiel im Rückspiegel, wenn sich ein anderes Fahrzeug im toten Winkel befindet.

Kollisionswarner
Um das Risiko eines Auffahrunfalls zu reduzieren oder dessen Auswirkungen abzuschwächen, wurde die Kollisionswarnung für Motorräder entwickelt. Sie ist aktiv, sobald das Fahrzeug gestartet wird, und unterstützt den Fahrer in allen relevanten Geschwindigkeitsbereichen. Erkennt das System eine kritische Annäherung an ein vorausfahrendes Fahrzeug und bleibt eine Reaktion des Fahrers auf die Gefahrensituation aus, warnt es den Fahrer über ein akustisches oder optisches Signal. Die technische Basis, die dahintersteckt, ist eine Kombination von Radarsensor, Bremssystem, Motormanagement und HMI (Human Machine Interface). Der Radar als «Sinnesorgan» des Motorrads ermöglicht die neuen Assistenzund Sicherheitsfunktionen für Bikes und liefert ein genaues Bild des Fahrzeugumfelds.

Sicherheitstechnik der nächsten Motorrad-Generation
Mit dem Programm Advanced Future Safety Technologies möchte Honda dazu beitragen, die Zahl der Verkehrsunfälle perspektivisch auf null zu senken. Jetzt hat sich der japanische Hersteller einen Spurhalteassistenten für Motorräder patentieren lassen.

Nachdem der radargestützte Tempomat auch im Motorrad bereits Realität ist, arbeitet Honda an weiteren fortschrittlichen Fahrerassistenzsystemen, auf Englisch Advanced Rider Assist Systems (ARAS). Aktuell befindet sich ein Spurhalteassistent für motorisierte Zweiräder in der Entwicklung. Einige Patente, die unlängst in Japan eingereicht wurden, lassen Rückschlüsse auf die beabsichtigte Funktionsweise des Lane Keeping Assist System (LKAS) zu. Der Spurhalteassistent erhält seine Daten von Sensoren, darunter ein Frontradar und eine Kamera, die die Strassenmarkierungen und den vorausfahrenden Verkehr kontinuierlich beobachten.

Zentrales Element ist ein Aktuator auf der Lenkachse. Dieser besteht aus einem magnetostriktiven Drehmomentsensor, der Lenkbewegungen registriert, sowie einem Servomotor, der Lenkimpulse geben kann.

Fahreraktivität bleibt momentan noch im Vordergrund
Registriert der Sensor Lenkbewegungen des Fahrers, wird das LKAS automatisch deaktiviert. Hiermit soll sichergestellt sein, dass der Assistent nicht eingreift, wenn der Fahrer die Spur absichtlich wechseln möchte. Wird keine Lenkaktivität festgestellt, kann das System, sobald die Sensoren ein unbeabsichtigtes Verlassen der Spur diagnostizieren, einen Lenkimpuls zur Korrektur auslösen.

Anwendungsspezifikationen für Fahrerassistenzsysteme
Fortschrittliche Fahrerassistenzsysteme (ADAS) können in konkreten Szenarien «eigenständig» agieren. Dabei wurde die besondere Dynamik von Motorrädern berücksichtigt. Die entscheidende Grösse bei der Entscheidung, ob ein ADAS in einer kritischen Situation die Verkehrsteilnehmer benachrichtigt, warnt oder selbständig eingreift, ist die Zeit bis zur vorberechneten Kollision, die Time-to-Collision (TTC).

Das Szenario «Linksabbieger» beschreibt eine Situation mit zwei oder mehr Verkehrsteilnehmern im Gegenverkehr, von denen einer die Absicht hat, nach links abzubiegen. Derjenige, der abbiegen will, schätzt möglicherweise die Geschwindigkeit und den Abstand des geradeaus fahrenden entgegenkommenden Fahrzeugs falsch ein oder erkennt es gar nicht. Das ADAS warnt den Fahrer und greift, wenn nicht reagiert wird, selbst ein.

Aktive Radarreflektoren für Motorräder 
Um die Erkennung motorisierter Zweiräder durch Assistenzsysteme zu verbessern, will Piaggio aktive Radarreflektoren einsetzen, die das Signal verstärkt zurücksenden. Ein Patent für die Technologie wurde unlängst erteilt.

Während es in der Wehrtechnik darum geht, die Radarsignatur von Schiffen, Flugzeugen und Landfahrzeugen möglichst klein zu halten, um ihre Entdeckung zu erschweren, beschreitet Piaggio für den zivilen Bereich den entgegengesetzten Weg. Das italienische Unternehmen will Motorräder sichtbarer machen. Hintergrund der Bemühungen ist die Tatsache, dass das Radarecho, welches die Sensoren moderner Assistenzsysteme von zweirädrigen Verkehrsteilnehmern erhalten, oftmals sehr schwach ist, was dazu führen kann, dass diese nicht erkannt werden. Motorräder sind für die elektronischen Assistenten unter ungünstigen Umständen sozusagen «unsichtbar» unterwegs. Assistenzsysteme können das Motorradfahren sicherer machen. Immer vorausgesetzt, dass Motorradfahrende bereits in der Fahrausbildung und Weiterbildung über deren Nutzen und Grenzen geschult worden sind. Auch die Unfallforschung befasst sich stärker mit dem Thema Motorradunfälle. Erstmals werden spezielle Biker-Dummys und neue Crash-Szenarien zum besseren Schutz der Motorradfahrenden und der
Entwicklung von Assistenzsystemen eingesetzt.

Zusätzlich erhältliche Assistenzsysteme für das Motorrad
• wählbare Fahrmodi
• Schaltassistent
• Launch-Control
• Pitlane-Limiter
• Reifendruckkontrolle
• eCall-System
• adaptives Kurvenlicht und Bremslicht
• Verkehrszeichenerkennungs-Assistent
 

 

Online-Veröffentlichung: 23.3.2023
Beitrag: Ravaldo Guerrini
Quellen: Bosch, ADAC, Honda, Imtest, Continental, bfu, BMW
Bilder: Bosch, ADAC, Honda, Imtest, Continental, bfu, BMW